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21.07.2024 - Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende

Der Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende ist jedes Jahr ein bedrückendes Ereignis, das uns als in der Suchthilfe Tätige mit Trauer und Betroffenheit innehalten lässt. Es sind oft Tragödien und furchtbare Lebenserfahrungen, die hinter jedem einzelnen Menschen stehen, der infolge der Drogenabhängigkeit verstorben ist. Und es werden jedes Jahr mehr. Seit der Coronapandemie sind mehr Menschen verstorben als zuvor - wie kam es dazu?  

Es ist aus Sicht der Suchthilfe ein multifaktorielles Erklärungsmodell heranzuziehen. Eindeutige Kausalitäten lassen sich nicht empirisch ableiten, dennoch sollen einige Punkte genauer betrachtet und doch auch in einen Zusammenhang gestellt werden. Die Lebenssituation monovalent oder polyvalent konsumierender Menschen mit Opioidabhängigkeit, die mit 48,2% im Jahr 2023 den Großteil der Verstorbenen ausmachen, ist denkbar schlecht. Sie leiden unter körperlichen und psychischen Erkrankungen, Traumatisierungen, Infektionserkrankungen (HCV, HIV), Wohnungslosigkeit, Gewalterfahrungen und vielem mehr, was sie sozial ausgrenzt und stigmatisiert. Die vielfach belastete Gruppe der zum großen Teil langzeitabhängigen Menschen leidet darüber hinaus an zahlreichen, meist schweren konsumbedingten Gesundheitsschädigungen.  

Auffällig sind außerdem in 2023 sprunghaft angestiegene „polyvalente“ Vergiftungen durch Opioide sowie Vergiftungen durch andere Substanzen als Opioide. Diese ungewöhnlichen Anstiege sind ohne weitere Daten schwer einzuschätzen, zumal bei drogenbedingten Todesfällen meist keine toxikologischen Gutachten erstellt werden. Es könnte aber im Falle der Vergiftungen durch Opioide in Zusammenhang gebracht werden, dass das Bundesmodellprojekt RaFT im letzten Jahr synthetische Opioide als gefährliche Beimengungen im Heroin in Deutschland nachgewiesen hat: Illegal hergestellte synthetische Opioide sind billig und einfach zu produzieren, wirken aber sehr viel stärker als Heroin. Während bei Heroin 200 Milligramm tödlich wirken, sind es bei Fentanyl schon 2 Milligramm. Wenn Konsumierende nichts von der Beimengung wissen, sind sie daher in Lebensgefahr. Aufgrund ihrer starken Wirkung sind synthetische Opioide kaum sicher dosierbar. Das Projekt dokumentierte Fälle vor allem in Düsseldorf und Münster (vgl. DAH, 2024). In den beiden NRW-Städten gab es laut Kreispolizeibehörden vor Ort starke Anstiege der drogenbedingten Todesfälle.  

Im Bereich der Vergiftungen durch andere Substanzen als Opioide ist zu beobachten, dass Crack in vielen nordrhein-westfälischen Städten auf dem Vormarsch ist. Seit einigen Jahren ist auch in den Drogenkonsumräumen NRWs eine zunehmende Verelendung der Besucher*innen zu beobachten. Der anhaltend hohe und weiter steigende Konsum von Crack kann als Grund für die Verelendung angeführt werden. Jedoch ist nicht nur die Substanz alleine ursächlich, sondern auch die mit ihrem Konsum einhergehenden Veränderungen der Lebensumstände und Verhaltensweisen der Besucher*innen. Wohnungslosigkeit, Schlafmangel, Zeitdruck und schlechte Ernährung sind nur ein paar der Gründe, die zu einer enormen Verelendung führen.

Die Gefahr, an den Folgen eines Langzeitkonsums von Suchtmitteln zu versterben, ist durch die oft vielfältigen Multiproblemlagen erhöht. Im Bereich der Menschen mit schweren Substanzgebrauchsstörungen gibt es in NRW die statistische Erfassung der Drogenkonsumräume (Pauly & Jeschky, 2024). Der Opioidkonsum in den zwölf Drogenkonsumräumen in Nordrhein-Westfalen nimmt seit 2018 über die Jahre stetig ab, während der Kokainkonsum im gleichen Zeitraum stetig zunimmt. Die durch den Konsum sichtbare Verelendung der Klientel hat sich in den letzten Jahren stetig verschlimmert. Durch die massiven Multiproblemlagen besteht für die Betroffenen Lebensgefahr.

Substanzgebrauchsstörungen sind stets beeinflusst von Faktoren der betroffenen Personen, der jeweiligen Substanz (Verfügbarkeit, Wirkung, Reinheit, Konsumform) und des Umfelds (vgl. Kielholz & Ladewig, 1973; Deimel & Moesgen, 2024). Veränderungen innerhalb dieser Faktoren haben Einfluss auf die individuelle Gesundheit der betroffenen Drogengebrauchenden, aber auch auf die gesellschaftlichen Folgen des Drogenkonsums. Schaut man beispielsweise auf die Substanzverfügbarkeit von Kokain in den letzten Jahren, ist seit 2015 eine stabile Verfügbarkeit von qualitativ hochwertigem Kokain auf dem Schwarzmarkt in den europäischen Nachbarländern zu verzeichnen (vgl. EMCDDA, 2023), die einen zentralen Einfluss auf den Schwarzmarkt in NRW hat.

Schließlich ist die Altersstruktur der in 2023 erfassten Verstorbenen auffällig (LKA, 2024): Auch wenn das Durchschnittsalter der Verstorbenen mit 43,6 Jahren im Vergleich zu den Vorjahren recht stabil ist, fällt auf, wie viele junge Betroffenen verstorben sind: In den Gruppen der unter 18-Jährigen beider Geschlechter gibt es eine Verdoppelung der Fälle im Vergleich zu 2022 (von N=7 auf N=14). Auch in der Gruppe der männlichen 21- bis 25-Jährigen (von N=23 auf N=39) nehmen die Fälle massiv zu. Bei den Frauen ist insgesamt eine starke Zunahme über alle Altersgruppen unter 30 Jahren zu beobachten (von N=9 in 2022 auf N=24 in 2023). Besonders die Zunahme der drogenbedingten Todesfälle bei den jungen konsumierenden Menschen zeigt, wie prekär der Zustand für Menschen mit schweren Substanzgebrauchsstörungen aktuell ist.  

Maßnahmen der Schadensminderung

Um drogenbedingte Not- und Todesfälle zu reduzieren, ist eine koordinierte und ganzheitliche Herangehensweise erforderlich. Dazu gehören die Stärkung von Präventionsmaßnahmen, der Ausbau niedrigschwelliger Suchthilfeangebote sowie der Überlebenshilfe, die Förderung von Aufklärungskampagnen und Behandlungsmöglichkeiten und die Verbesserung Therapieangeboten des für Zugangs Menschen zu medizinischen mit schweren Substanzgebrauchsstörungen. Es ist entscheidend, dass alle relevanten Akteur*innen auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeiten, um das Leben der Betroffenen zu schützen.  Aus fachlicher Perspektive wären die notwendigen Maßnahmen für viele Träger*innen der Suchthilfe und angrenzender Hilfesysteme wie Wohnungslosenhilfe u.Ä. umsetzbar. Oft mangelt es jedoch an einem rechtskreisübergreifend abgestimmten Vorgehen und dadurch an einer auskömmlichen Finanzierung. Dies spiegelt sich wiederum in der Ausstattung und den Rahmenbedingungen wider, die Mitarbeitenden dieses herausfordernden Arbeitsfeldes zur Verfügung gestellt werden können.

Ausblick

Die Suchthilfe in Nordrhein-Westfalen hat sich längst auf den Weg gemacht, um Menschen mit schweren Substanzgebrauchsstörungen passgenauere Unterstützung anbieten zu können. Die Suchthilfe allein kann dies jedoch nicht leisten, sondern es bedarf zusätzlich eines interdisziplinären Wandels: Die medizinische Versorgung muss verbessert werden (Beispiele: Krankenversicherung für alle und Erhöhung der Attraktivität von Substitutionsbehandlungen für substituierende Ärzt*innen). Die Zusammenarbeit der betroffenen Akteur*innen muss weiter befördert werden - nicht nur durch den Gesundheitssektor.

Am Beispiel der Drogenkonsumräume wird deutlich, wie relevant die Beteiligung von Suchthilfe, kommunalen Ordnungspartnerschaften und Stadtplanung für den Erfolg niedrigschwelliger Suchthilfe auf der einen und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung auf der anderen Seite sind. Kommunen und Träger der Freien Wohlfahrtspflege müssen dafür an einem Strang ziehen -  und dabei muss die Hilfe für Menschen mit schweren Substanzgebrauchsstörungen Priorität haben, nicht nur die "öffentliche Ordnung". Denn wenn man den Menschen hilft, mindert/ beseitigt das auch die Probleme im öffentliche Raum. Die finanzielle Sicherung der notwendigen niedrigschwelligen Hilfeangebote wäre eine wünschenswerter gesellschaftliche Antwort auf eine zunehmend prekär werdende Lebenssituation von Menschen mit schweren Substanzgebrauchsstörungen in Nordrhein-Westfalen. Es ist von größter Relevanz, dass alle Beteiligten erkennen, dass der Anstieg der Anzahl drogenbedingter Todesfälle bedeutet, dass eine der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen in unserem Land dringend auf ein ausreichendes und funktionierendes Hilfesystem angewiesen ist, um möglichst nicht in konkrete Lebensgefahr zu geraten.  

 

Literatur

Deimel, D., Moesgen, D. (2024). Phänomenologie und Ätiologie von Substanzgebrauchsstörungen. In: Deimel, D., Moesgen, D., Schecke, H. (Hg.) Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch. Stuttgart: UTB. Im Erscheinen.

Deutsche Aidshilfe, 2024: Opioide: Fentanyl und Co. Sind in Deutschland angekommen. Pressemeldung 15.02.2024. www.aidshilfe.de/meldung/opioide-fentanyl-co-deutschland-angekommen  (letzter Zugriff 17.04.2024).

EMCDDA (2023). Die Drogensituation in Europa bis 2023 – ein Überblick und eine Bewertung aufkommender Bedrohungen und neuer Entwicklungen (Europäischer Drogenbericht 2023). www.emcdda.europa.eu/publications/european-drug-report/2023/drug-situation-in-europe-up-to2023_en (letzter Zugriff 17.04.2024)

Kielholz, P.; Ladewig, D. (1973). Die Abhängigkeit von Drogen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.  Landeskriminalamt NRW (2024). Rauschgiftkriminalität 2023. Unveröffentlichte Unterlagen.

Pauly, A., Jeschky, K. (2024). Jahresbericht 2023. Drogenkonsumräume in Nordrhein-Westfalen. Köln: LVRDruckerei. suchtkooperation.nrw/fileadmin/user_upload/Jahresbericht_2022_HP.pdf (letzter Zugriff 27.06.2024)