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Kinder in suchtbelasteten Familien: (k)ein Thema für die Suchthilfe?

Eine Auseinandersetzung mit der Situation von Kindern, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, findet in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, so auch in der Suchthilfe, seit vielen Jahren mit unterschiedlichen Fragestellungen statt.

Über die Anzahl der Kinder substanzkonsumierender Frauen und Männer liegen keine aktuellen Erkenntnisse vor, die bestehenden Angaben sind von ihrem Ursprung her nicht mehr nachvollziehbar, entsprechend nicht überprüfbar und beruhen teilweise ausschließlich auf Schätzungen*. Konkrete Daten beispielsweise zum Lebensort der Kinder, zum Sorgerecht, zu der Frage, inwiefern Leistungen der Jugendhilfe erbracht werden, ob bei nicht schulpflichtigen Kindern andere i. w. S. pädagogische Fachkräfte Kontakt zu dem Kind und Einblick in dessen Entwicklung haben (Krippe, Kita, Kindergarten, Tagesmutter), u. v. m. konnten bislang mit den bestehenden Dokumentationssystemen in Deutschland nicht erfasst werden. Ebenso kann aufgrund der bisherigen Datenlage nicht nachvollzogen werden, ob Mitarbeitende der Suchthilfe unmittelbare Einblicke in die Wohn-/Lebenssituation der Kinder (beispielsweise aufgrund von Hausbesuchen) haben. Weiterhin ist bislang nicht ersichtlich, ob überhaupt und wie häufig die Kinder von den Mitarbeitenden der Suchthilfe gesehen werden.

Hinsichtlich der Möglichkeiten des tatsächlichen Kinderschutzes sind diese Fragen für die Praxis jedoch relevant: Aufgrund gesetzlicher Veränderungen der letzten Jahre, wesentlich das am 01. Januar 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz, ist die Suchthilfe mittlerweile explizit in den Kinderschutz einbezogen.

Ungeachtet dieser unbefriedigenden Datenlage sind sich Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis einig, dass Kinder und Jugendliche mit psychisch erkrankten oder suchtkranken Eltern auf ihrem Lebensweg mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind, für deren Bewältigung sie fachlich qualifizierte und zuverlässige sowie dauerhafte Begleitung und Unterstützung brauchen. Andernfalls treten sie mit einem deutlich erhöhten Risiko, selbst eine Sucht- oder psychische Erkrankung zu entwickeln, ins Erwachsenenalter ein.

Diesen Unterstützungs- und Handlungsbedarf unterstreicht die vom Deutschen Bundestag im Jahr 2017 einberufene Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Situation von Kindern psychisch- und suchtkranker Eltern (AG KipkE) in ihrem Abschlussbericht ausdrücklich, der im Dezember 2019 dem Bundestag zugeleitet wurde.

* Vgl.: Klein, Michael., Thomasius, Rainer & Moesgen, Diana (2017). Kinder von suchtkranken Eltern – Grundsatzpapier zu Fakten und Forschungslage. In: Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hrsg.), Kinder aus suchtbelasteten Familien. Berlin Geschäftsstelle der Drogenbeauftragten.
Klein, Michael (2018a). Kinder im Kontext elterlicher Alkoholsucht. Suchtmedizin 20 (1), 52–62.

Modellprojekt NRWKIDS-Modul

Das Gesundheitsministerium NRW finanzierte in den Jahren 2017 und 2018 im Rahmen des Modellprojekts NRWKIDS zwei explorative Erhebungen zur Elternschaft der Klientel der ambulanten Suchthilfe in NRW und zur Lebenssituation ihrer Kinder. Die in diesem Detaillierungsgrad bis dahin einzigartige Datenbasis lässt Aussagen über die Sichtbarkeit der Kinder im Hilfesystem, ihre Einbindung in öffentliche Betreuungseinrichtungen und ihre alltägliche Wohn- und Betreuungssituation zu. Zugleich zeigt das Modellprojekt auch die Lücken, die sowohl hinsichtlich des Wissens zu Lebenslagen und Betreuungsbedarfen betroffener Familien und Kinder als auch hinsichtlich bestehender Unterstützungsangebote nach wie vor bestehen.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Etwa jede 2. Klientin und jeder 3. Klient der ambulanten Suchthilfe ist Mutter/Vater.
1.843 (1.786) bzw. 44,0 % (44,3 %) der minderjährigen Kinder leben bei ihren suchtkranken Eltern(-teilen).
Für etwa jedes 3. Kind unter 7 Jahren wird keine öffentliche Betreuung oder Tagesmutter in Anspruch genommen.
Der weitaus größte Teil der Kinder 77 % (80 %) wird von den Mitarbeitenden der ambulanten Suchthilfe nie gesehen.
Es gibt sehr selten Einblicke in die tatsächlichen häuslichen Umstände oder Kenntnis zum Wohlbefinden der Kinder.
Die Ergebnisse des Modellprojekts zeigen, dass die Suchthilfe prinzipiell die Möglichkeit hat, durch den Kontakt zu den Eltern dezidiertes Wissen zu den strukturellen Lebensbedingungen der Kinder zu generieren. Dass die Kinder dennoch im Suchthilfesystem kaum sichtbar werden, spiegelt die Tatsache des fehlenden Auftrags und der fehlenden Finanzierung auf Seiten der Suchthilfe wider.
Den gesamten Bericht zum Modellprojekt finden Sie hier.

 

www.w-kis.de

Das Wissensnetzwerk www.w-kis.de, Kinder in suchtbelasteten Familien, versteht sich als Service- und Unterstützungsangebot für Praktikerinnen und Praktiker, die in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und darüber hinaus für alle Menschen, die Berührungspunkte zu betroffenen Kindern und Jugendlichen haben. Zudem leistet es einen grundlegenden Beitrag zur Aufklärung und sensibilisiert für die vielfältigen Herausforderungen, denen Kinder und Jugendliche alltäglich begegnen, die mit einem oder mehreren suchtkranken Erwachsenen zusammen leben.